· 

Die Sache mit den inneren Stimmen

 

Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,

die eine will sich von der andern trennen:

Die eine hält in derber Liebeslust

sich an die Welt mit klammernden Organen;

die andre hebt gewaltsam sich vom Dust

zu den Gefilden hoher Ahnen.

 

Faust 1, Vers 1112 - 1117; Vor dem Tor. (Faust)

 

Dieses wohlbekannte Zitat von Goethe hat sicher nichts mit der klinischen Diagnose der Schizophrenie zu tun. Es ist tatsächlich völlig normal, dass man ganz verschiedene Anteile und Stimmen in sich hat, die sich jedoch bedauerlicherweise häufig nicht einig oder sogar gänzlich gegensätzlicher Meinung sind.

 

Im Zen-Buddhismus wird ausführlich beschrieben, dass das „Ich“ lediglich ein Konstrukt ist. Demnach entsteht der Beobachter eines Mondes immer zugleich mit der Tätigkeit der Beobachtung des Mondes. Der Denker entsteht im Moment des Denkens. Durch Meditation können wir uns dieser Thematik annähern und so tief unseren Geist erforschen und verstehen.

 

An dieser Stelle sei es nun auch nicht so wichtig, ob es das „Ich“ gemäß unserem allgemeinen Verständnis überhaupt gibt. Bedeutend ist jedoch, dass wir tatsächlich die von Goethe beschriebene Situation erleben und uns zum Beispiel bei Entscheidungen in unserem Innersten häufig ganz und gar nicht einig sind. Es gibt sozusagen mehrere, teilweise gegensätzliche und unterschiedlich laute Stimmen. Ganz so, als bestünde das Ich aus verschiedenen Anteilen. In unserer modernen Lebensführung wird diese Pluralität zumeist als lästig empfunden. Die innere Mehrstimmigkeit mündet nicht selten in einem Hin und Her oder auch in einem unangenehmen Stillstand.[1]

 

Wie tief das Modell der inneren Anteile jedoch bereits in unserem Leben verwurzelt ist, lässt sich auch daran ablesen, dass sich in unserer Sprache sogar schon bestimmte Archetypen etabliert haben. So kennen wir alle den „Inneren Kritiker“ und den „Inneren Schweinehund“. Diese beiden Persönlichkeitsanteile sind leider durch ihre wenig wertschätzende Namensgebung bereits Opfer schwersten Mobbings. Nun, auf der obersten Ebene betrachtet sind diese Anteile ja auch durchaus unangenehm. Mit der hypnosystemischen Brille angeschaut, würden wir uns jedoch alsbald auf die Suche nach deren ursprünglich guten Absichten machen. Systemiker gehen einfach mal davon aus, dass es keine per se „bösen“ Anteile gibt. Innere Anteil sind manchmal bereits vor längerer Zeit entstanden und haben eventuell noch nicht so recht mitbekommen, dass inzwischen bereits viel Zeit vergangen ist und ihre ursprünglich sinnhaften Reaktionen heute nun eher weniger zieldienlich und nicht mehr passend sind.

Ein weiterer, in der Gesellschaft bekannter und deutlich positiver beschriebener Anteil ist das „Innere Kind“. Mittlerweile gibt es sehr viel gute Literatur zur Arbeit mit diesem Anteil. Ich empfehle hierzu das Buch "Das Kind in uns" von John Bradshaw (Droemer Knaur).

 

Wollen wir uns wirklich selber erkennen und besser verstehen, um so auf dem Weg der Selbstkultivierung voranzuschreiten, kann die Arbeit mit den eigenen Persönlichkeitsanteilen im Rahmen einer hypnosystemischen Beratung sehr effektiv und von großem Nutzen sein.

 

In der hypnosystemischen Beratung werden im Gegensatz zur hypnosystemischen Therapie keine psychischen Störungen mit Krankheitswert behandelt. Im Coaching oder in der Beratung kommen aber durchaus Methoden der Hypnotherapie zum Einsatz. Mit diesen wird nicht therapeutisch gearbeitet. In der Beratung kann mit der Methode der Ego-States gearbeitet werden, um so zum Beispiel die Lebensqualität oder auch die Kommunikation mit dem Partner/ der Partnerin zu verbessern.

 

Peichl definierte 2007 Ego-States folgendermaßen: „EGO-States sind komplexe neuronale Netzwerke, die Gefühle, Körperempfindungen, Kognitionen und Verhaltensweisen in einem bestimmten Augenblick oder über einen bestimmten Zeitraum festhalten.“[2]

  

Die Arbeit mit den Ego-States ist wissenschaftlich abgesichert sowie gut erforscht und steht uns als moderne Methode der Selbstregulierung auf dem Weg der Selbstkultivierung zur Verfügung.

 

Durch die Arbeit mit den inneren Anteilen erfolgt eine innere Klärung und Harmonisierung. Innere Dynamiken werden bewusst und können aufgelöst werden. Es erfolgt eine Entlastung und eine neue Art der Freiheit wird erfahrbar.

 

Im Laufe unseres Lebens haben wir Anhaftungen und Abwehrhaltungen entwickelt, welche nun auf der mentalen Ebene wieder aufgegeben werden können und wir uns dem ursprünglichen Zustand wieder annähern. Wir verlernen alte Muster. Ohne diese inneren Transformationen ist es uns nur schwerlich möglich ein wirklich gutes und erfülltes Leben zu leben. Je klarer wir innerlich werden, umso besser können wir „Aufhören“ und umso leichter kann das in Erscheinung treten, was wirklich und natürlich ist. Vermutlich kommen wir dann dem daoistischen Ideal des Nicht-Handels, des Wu-Wei, nahe. Im Laufe der Zeit kann wirkliche Heilung geschehen. Heilung davon, den Dingen eine Bedeutung oder einen Sinn geben zu müssen, die sie von Natur aus nicht haben.

 

Zhuangzi, Kapitel 18:

„Der Himmel erlangt, indem er nichts tut, Reinheit; die Erde erlangt, indem sie nichts tut, Ruhe; wenn sich beider Nichtstun miteinander vereint, können sich all die zahllosen Lebewesen entfalten. Wie eine Pflanze aus dem Samen sprießen sie aus dem Nichts hervor! Wie der Same aus der Pflanze treten sie nicht in Erscheinung! Die zahllosen Lebewesen mit all ihren Lebensweisen: Sie alle entspringen und wachsen durch Nichtsdazutun. Daher heißt es: „Himmel und Erde tun nichts dazu, und nichts bleibt ungetan.“ Wer von den Menschen hat die Gabe, nichts dazu zu tun?“[3]

 

 


[1] Schulz von Thun, F. (2003). Miteinander Reden - Das "Innere Team" und situationsgerechte Kommunikation. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH.

[2] nach Hartman, W. (2019). Die Kunst der Ego-State-Therapie. Aufzeichnung seines Vortrags auf dem Kongress "30 Jahre MEGA-Hypnose & Hypnotherapie. (B. Ulrich, Hrsg.)

[3] Kalinke, V. (2019, S. 193). Zhuangzi - Das Buch der daoistischen Weisheit, Gesamttext. Ditzingen: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0